Have any questions?
+44 1234 567 890
Europäischer Gerichtshof (EuGH) bestätigt den Individuenbezug und den Absichtsbegriff beim Artenschutz für europäische Vogelarten

Dr. Matthias Schreiber
Obgleich nach der Entscheidung des EuGH zu Skydda Skogen alles in Sachen europäischer Vogelarten geklärt schien, kam die Frage nach dem Schutzstatus europäischer Vogelarten durch ein Vorlageersuchen des obersten estnischen Gerichts erneut auf den Tisch des hohen Hauses. Auslöser war ein Streitfall um Holzfällarbeiten während der Brutzeit, die die zuständige Behörde versagt hatte und dann die Gerichte in Estland beschäftigten. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung hielt es das oberste Gericht für geboten, dem EuGH insgesamt sieben Fragen zur Entscheidung vorzulegen. Relevant sind nur die ersten drei, denn für die übrigen stellt der EuGH später fest, sie seien aus formalen Gründen unzulässig. Auch wenn die im Weiteren behandelten Fragen lang und in ihrer Formulierung für ungeübte Leser erst einmal gewöhnungsbedürftig erscheinen mögen, seien sie nachfolgend wiedergegeben, um daran die Antworten des EuGH (Urteil vom 01.08.2025, Az. C-784/23) und einige erste erläuternde Anmerkungen anzuschließen:
"1. Kann Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie dahin ausgelegt werden, dass die darin geregelten Verbote nur gelten, soweit es erforderlich ist, um im Sinne von Art. 2 dieser Richtlinie den Bestand der betreffenden Vogelarten auf einem Stand zu halten, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird, sofern die Tötung oder Störung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier nicht das Ziel der Handlung ist?
2. Ist Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die nach diesen Bestimmungen verbotenen Handlungen während der Brutzeit der Vögel u. a. dann absichtlich sind, wenn aufgrund wissenschaftlicher Daten und der Beobachtung einzelner Vögel davon ausgegangen werden kann, dass in einem Wald, der vollständig kahl geschlagen werden soll (Kahlschlag), etwa zehn Vogelpaare pro Hektar nisten, ohne dass festgestellt wurde, dass auf der Fläche des Holzschlags Vogelarten nisten, deren Erhaltungszustand ungünstig ist?
3. Ist Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die nach diesen Bestimmungen verbotenen Handlungen während der Brutzeit der Vögel u. a. dann absichtlich sind, wenn aufgrund wissenschaftlicher Daten und der Beobachtung einzelner Vögel davon ausgegangen werden kann, dass in einem Wald, in dem nur ein Teil der Bäume geschlagen werden soll (Schirmschlag), etwa zehn Vogelpaare pro Hektar nisten, ohne dass Grund zu der Annahme besteht, dass auf der Fläche des Holzschlags Vogelarten nisten, deren Erhaltungszustand ungünstig ist?“

Zu Frage 1 weist der EuGH auf seine bisher wiederholt vorgetragenen Grundsätze hin. Die angesprochenen Verbote (Tötung bzw. Beschädigung von Individuen, Zerstörung von Nestern, erhebliche Störungen) entfalten Wirkung für alle europäischen Vogelarten. Darauf, ob sie in irgendeiner Weise gefährdet sind, kommt es nicht an (R. 45). Der EuGH zählte dazu in seinem Urteil diese im Streitfall in Estland festgestellten Vogelarten auf: Waldlaubsänger, Zaunkönig, Amsel, Singdrossel, Buchfink, Kleiber, Gimpel, Zilpzalp, Fitis, Zwergschnäpper, Buntspecht, Eichelhäher, Gartengrasmücke, Heckenbraunelle und Rotkehlchen.
Der EuGH hält weiter an seiner Auslegung fest, dass es für die Frage der Absicht nicht darauf ankommt, „dass der Handelnde die Tötung eines Exemplars einer geschützten Art die Störung dieser Arten oder die Zerstörung von Eiern gewollt“ hat. Es reicht die Inkaufnahme. Anders als für die Störung (nach Art. 5 lit. d VRL) kommt es bei der Tötung oder der Zerstörung von Lebensstätten auch nicht auf irgendeine messbare Auswirkung auf die Population an: „Dagegen sieht Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie keine Voraussetzung vor, die jener in Art. 5 Buchst. d dieser Richtlinie entspricht.“ (Rn. 52 des Urteils).
Zu erwähnen sind auch die Ausführungen in den Randnummern 55 und 56 des Urteils, die womöglich ein Fenster eröffnen in Richtung von Ausnahmen von den Verboten des Artenschutzes für Vögel nach Art. 9 VRL. Bisher sind diese – eng am Wortlaut orientiert – restriktiv ausgelegt worden. Dazu wird es künftig sicherlich weitere Vorlagefragen geben.
Von Bedeutung sind weiterhin die Antworten auf die Fragen 2 und 3, die der EuGH zusammen prüfte. Zuerst einmal stellt er fest, dass es nicht darauf ankommt, ob die Arten gefährdet sind. Der EuGH unterscheidet bei seinen Überlegungen aber auch nicht zwischen Kahlschlag und Schirmschlag, weil er offenbar davon ausgeht, dass es in beiden Fällen zur Tötung, zu Störungen oder zur Zerstörung von Nestern oder Eiern kommen wird. Es reicht dem EuGH offenbar aus, dass es durch diese Maßnahmen zu den verbotenen Beeinträchtigungen kommen kann.
Für Irritationen (bei anderen: freudige Erwartungen?) könnte der Umstand wecken, dass sich der EuGH an dieser Stelle mit Beständen von zehn Vogelpaaren pro Hektar auseinandersetzt. Das dürfte allerdings vor allem damit zu tun haben, dass genau dies die Annahme der vorgelegten Frage aus Estland war (im Übrigen für ungefährdete Vogelarten) und weniger damit, dass der EuGH damit einen Schwellenwert markieren wollte. Auch die Frage danach, was gelten würde, wenn auch gefährdete Arten betroffen sind, war nicht Gegenstand. Aus dem gesamten Tenor und nach der bisherigen Rechtsprechung dürfte geklärt sein, dass der EuGH hinsichtlich des Umfangs an Betroffenheit bei den Verboten des Art. 5 lit. a und b VRL weiterhin am Individuenbezug festhält und es müßig sein dürfte, sich jetzt durch weitere Vorlagefragen über 9, 8, 7 … Arten je Hektar an eine vermutete Schwelle heranzutasten. Lediglich für Störungen verweist der EuGH auf einen Populationsbezug.
Eine kleine Anmerkung noch: Die Generalanwältin hatte in den Schlussanträgen zu diesem Verfahren (das sind üblicherweise die Gutachten, die die Entscheidung des EuGH vorbereiten sollen) ausführlich für einen weniger strengen Artenschutzes bei europäischen Vögeln geworben – der EuGH hat die Überlegungen mit keiner Silbe berücksichtigt.
Konsequenzen für die deutsche Planungs- und Genehmigungspraxis

Es ist an der Zeit, dass die bundesdeutsche Planungs- und Genehmigungspraxis (und ihr folgend auch die Rechtsprechung) den strengen Maßstab des Artenschutzes für europäische Vogelarten konsequent anwendet. In einem ersten Schritt gehört dazu, dass z.B. das BfN diverse Handlungsleitfäden, in denen es gerade bei europäischen Vogelarten populationsbezogene Relativierungen bei der Behandlung des Artenschutzes propagiert, zurückzieht und auf den schon länger geklärten, europarechtlichen Maßstab zurückführt. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die zu verschiedensten Eingriffsvorhaben in immer neuen Variationen verbreiteten „Übergeordneten Kriterien zur Bewertung der Mortalität wildlebender Tiere im Rahmen von Projekten und Eingriffen“. Gleiches gilt etwa für die insbesondere vom nordrhein-westfälischen Landesamt für Natur, Umwelt und Klima (LANUK, früher LANUV) vorangetriebenen Vorstellung, es gebe sogenannte planungsrelevante (und damit auch irrelevante) Vogelarten. Dafür gab es schon bisher weder eine rechtliche noch eine fachliche Grundlage. Nach der neuen Entscheidung des EuGH gilt das noch viel mehr. Bis jetzt halten sich diese Leitfäden als „Schadsoftware für den Artenschutz“ auf Rechnern von vielen Planern und Genehmigungsbehörden und haben ihren Anteil am Schwund der Biodiversität, weil sich die verantwortlichen Akteure weigern, die Rechtsprechung des EuGH zur Vermeidung von Biodiversitätsschäden zur Kenntnis zu nehmen. Beim EuGH, und nur dort, werden die "Übergeordneten Kriterien" zum Schutz europäischer Vogelarten definiert!
Vor diesem Hintergrund dürfte außerdem klar sein, dass die vom Gesetzgeber in Abschnitt 1 der Anlage 1 zu § 45b Abs. 1-5 BNatSchG aufgestellte Liste kollisionsgefährdeter Vogelarten nicht als abschließend anzusehen ist, sondern alle anderen (z.B. Mäusebussard, Feld- und Heidelerche, Uferschnepfe, Bekassine, Bienenfresser) bei der Planung von Windkraftanlagen nach naturschutzfachlichen Kriterien ebenfalls als kollisionsgefährdet zu berücksichtigen sind.
Ist so viel Schutz für alle europäischen Vogelarten zumutbar?

Wer meint, die Berücksichtigung wenigstens aller europäischen Vogelarten sei unzumutbar und praktisch nicht zu machen, verkennt gleich mehrerlei:
Ihre vollständige Berücksichtigung ist durch die EU-Vogelschutzrichtlinie seit 1979 zwingend vorgegeben! Das ist nicht erst seit dem neuen EuGH-Urteil klar.
Es gibt wohl keine Artengruppe, die mit vergleichbarem Aufwand auch großflächig so vollständig erfassbar ist und eine flächendeckende Bewertung von Plänen und Projekten und deren Auswirkungen ermöglicht.
Durch ihre flächendeckende Verbreitung und Raumansprüche können Vögel als Schirmarten für all die sowieso nicht untersuchten Artengruppen (Dipteren, Wildbienen, Schnecken, Asseln, Wanzen, Pilze, Flechten, Moose usw.) fungieren (Ausnahme: kleinräumige Sonderstandorte, die Gegenstand der Biotopkartierung sind). Berücksichtigt man die für europäische Vogelarten geltenden strengen Schutzbestimmungen, (Verbot der Tötung, der Zerstörung von Lebensstätten, erheblicher Störungen; Alternativenprüfung; für Ausnahmen zwingende Gründe; im Falle einer Genehmigung Wahrung des Erhaltungszustandes, was auf einen Ausgleich hinausläuft), profitieren bei konsequenter Anwendung all die übrigen Arten, die von Eingriffen mitbetroffen sind. Derzeit ist es umgekehrt: Weil selbst europarechtlich geschützte Arten als irrelevant wegdefiniert werden, greifen für sie nicht nur die artenschutzrechtlichen Verbote nicht, sondern es findet nicht einmal irgendeine Kompensation für solche Beeinträchtigungen statt.
Europäische Vogelarten, zusammen mit den Arten des Anhangs IV FFH-Richtlinie, machen in konkreten Planungsverfahren in der Regel etwa 0,1 bis 0,2 % des nationalen Artenbestandes aus. Wer sich davon bei der Planung von Projekten überfordert fühlt, sollte sich ein anderes Tätigkeitsfeld suchen.
(Bilder: Autor)
Hier können Sie unseren kostenlosen monatlichen E-Mail-Rundbrief bestellen!