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Das FFH-Gebiet „Aller“ – so kann europäischer Naturschutz nicht funktionieren!
Julia Voelsen und Laura Apel
Bundesweit existiert eine Fülle von Defiziten bei der Umsetzung von Natura 2000, weshalb die EU-Kommission am 18.02.2021 beschlossen hat, Deutschland „wegen mangelhafter Umsetzung der Habitat-Richtlinie“ (FFH-Richtlinie) vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen (siehe auch hier). Die Klageschrift liegt mittlerweile beim Europäischen Gerichtshof. Die EU-Kommission sieht mehrere Verstöße gegen die FFH-Richtlinie (FFH-RL) vor. Darunter fällt die fehlende Sicherung von 88 FFH-Gebieten durch nationale Unterschutzstellung, die allesamt in Niedersachsen liegen. Obwohl die Fristen zur hoheitlichen Sicherung der FFH-Gebiete bereits z.T. im Jahr 2010 ausgelaufen sind, hat es Deutschland auch 11 Jahre später nicht geschafft alle FFH-Gebiete hoheitlich zu sichern. So heißt es selbst im Schreiben Deutschlands an die EU-Kommission vom 12.06.2020, dass alle FFH-Gebiete ausgewiesen seien, außer 88 niedersächsische Gebiete. Für diese Gebiete sei der Prozess bis 2022 abgeschlossen.
Neben der förmlichen Unterschutzstellung ordnet die EU-Kommission zudem die Festlegungen in allen bereits gesicherten Gebieten als mangelhaft ein. Sie ist nämlich der Auffassung, dass die Erhaltungsziele für die deutschen Gebiete nicht hinreichend detailliert und gebietsspezifisch sind. Die Ziele müssten „quantifizierbar“ und „messbar“ sein. Deutschland dagegen bestreitet die Auffassung der Kommission und vertritt die Ansicht, dass das Ziel der Richtlinie, einen günstigen Erhaltungszustand der relevanten Schutzgüter zu erhalten oder wiederherzustellen, auch durch die deutsche Vorgehensweise erreicht werden könne.
Das eine solche Annahme insbesondere für Niedersachsen nicht zutreffend ist, zeigt exemplarisch eine Untersuchung zur Unterschutzstellung des FFH-Gebiets DE3021-331 „Aller (mit Barnbruch), untere Leine, untere Oker“. Die unterschiedlichen Zuständigkeiten führen zu massiven Brüchen und einem unkoordinierten Schutz, wie beispielhaft dargelegt werden kann.
Die Situation im FFH-Gebiet „Aller (mit Barnbruch), untere Leine, untere Oker“
In Niedersachsen wurde im Zuge einer Verwaltungsreform die Zuständigkeit für die Unterschutzstellung von FFH-Gebieten auf die Landkreise, kreisfreien Städte und großen selbständigen Städte übertragen. Diese Aufsplitterung der Zuständigkeiten hat dazu geführt, dass in den Fällen von grenzüberschreitenden FFH-Gebieten keine einheitlichen Unterschutzstellungen erfolgten, sondern dass diese auf mehrere Einzelgebiete unterschiedlicher Kategorien und unterschiedlicher Qualitäten verteilt sind.
Das niedersächsische FFH-Gebiet Nr. 90 „Aller (mit Barnbruch), untere Leine, untere Oker“ (DE3021331) fällt in den Zuständigkeitsbereich der 9 Naturschutzbehörden Braunschweig (Stadt), Celle (LK), Celle (Stadt), Gifhorn (LK), Region Hannover, Heidekreis (LK), Peine (LK), Verden (LK) und Wolfsburg (Stadt). Folge ist ein verschachteltes Mosaik aus Natur- und Landschaftsschutzgebieten (NSG und LSG) mit ihren jeweiligen Verordnungen, die wiederum verschiedene Schutzgüter (Lebensraumtypen (LRT) des Anhangs I und Arten des Anhangs II der FFH-Richtlinie) benennen bzw. nicht benennen.
Insgesamt umfasst das Gebiet eine Fläche von rund 18.030 ha. Einige Bereiche sind durch aktuelle Schutzgebietsverordnung abgedeckt, andere aber durch keine oder lediglich veraltete und ungeeignete Verordnungen. Knapp 98 % der Fläche steht unter förmlichem Schutz. Die restlichen 2%, knapp 380 ha, weisen nach wie vor keinen Schutzstatus auf. Laut des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) ist das Gebiet durch 31 Natur- und Landschaftsschutzgebiete gesichert.
Tatsächlich liegen insgesamt 53 Schutzgebiete, zumindest teilweise, im Bereich des FFH-Gebiets bzw. ragen in dieses herein (Ermittlung mittels GIS-basierter Auswertung). Einige nennen dabei Schutzgüter in ihren jeweiligen Verordnungen, andere nicht. Manche sind laut Verordnung jeweils anderen, angrenzenden FFH-Gebieten zugeordnet und eine Zugehörigkeit zum Gebiet Nr. 90 ist daher vermutlich nicht beabsichtigt. 30 Schutzgebiete sind durch ihre jeweilige Verordnung als Teilgebiet des FFH-Gebietes Nr. 90 unter förmlichen Schutz gestellt (24 NSG und 6 LSG). Das NSG "Allerniederung bei Klein Häuslingen" (NSG LÜ 155, siehe Karte 2), welches laut NLWKN ebenfalls zur Sicherung des Gebiets dient, ist mit seiner Verordnung vom 07.12.1987 jedoch bisher nicht als Teilgebiet geschützt und nennt keinerlei Schutzgüter.
Lücken bei der Unterschutzstellung der einzelnen Schutzgüter
Nach Angaben des an die EU-Kommission übermittelten Standarddatenbogens beherbergt das FFH-Gebiet „Aller …“ (DE3021331) insgesamt 39 Schutzgüter der Anhänge I & II der FFH-RL. Es handelt sich dabei um 22 Anhang-I-LRT und 17 Anhang-II-Arten. Die tatsächliche Umsetzung der Unterschutzstellung der einzelnen Güter in den einzelnen Verordnungen fällt sehr heterogen aus. Während beispielsweise Fischotter und Biber relativ flächendeckend unter Schutz gestellt wurden, sind andere Erhaltungszielarten, wie die Große Moosjungfer oder der Atlantische Lachs, kaum berücksichtigt oder finden, am Beispiel des Rapfen, in keiner der Verordnungen Erwähnung. Einen detaillierten Überblick der Schutzgüter und in welchen Schutzgebietsverordnungen sie jeweils aufgeführt sind, findet sich hier in Tabelle 1.
Die massiven Brüche in den Verordnungen sind fachlich keinesfalls nachvollziehbar. Es ist absurd, dass mobile Arten (z.B. Lachs, Fischotter) nur abschnittweise oder nur auf einer Flussseite geschützt werden.
Eine solche Vorgehensweise ist deshalb mehr als kritisch zu betrachten. Denn es ist erfahrungsgemäß damit zu rechnen, dass Erhaltungsziele in der Genehmigungs- und Planungspraxis keine oder weniger Beachtung finden, wenn sie in den jeweiligen Verordnungen nicht ausdrücklich genannt werden. Wie schließlich Pläne und Projekte in der Planungs- und Genehmigungspraxis gehandhabt werden, wenn diese in Bereichen vorgesehen sind, in denen mehrere Verordnungen mit unterschiedlichen Schutzbestimmungen aufeinandertreffen, mag man sich gar nicht vorstellen.
Die unterschiedlichen Zuständigkeiten führen zu massiven Brüchen und einem unkoordinierten Schutz, wie hier dargelegt wird. Eine Gesamtkoordination ist nicht ersichtlich. Dies hat hier sogar dazu geführt, dass der an die EU-Kommission für dieses Gebiet gemeldeten Rapfen in keiner einzigen Verordnung als Erhaltungsziel benannt wird. Die Art wird damit zukünftig „leer“ ausgehen. Deshalb führt das Fehlen von Schutzgütern in den Verordnungen u.U. dazu, dass der Gebietsmeldung nicht mehr die seinerzeit bescheinigte Vollständigkeit zugesprochen werden kann. Denn die bundesdeutsche Gebietsmeldung war nicht gerade durch eine überbordende Zahl an Gebieten gekennzeichnet, sondern erfüllt für viele Schutzgüter ein über mehrere Nachmeldeschritte allenfalls ein gerade noch hinzunehmendes Mindestmaß.
Schlussfolgerungen hinsichtlich des EU-Klageverfahrens
Die Ergebnisse zur Unterschutzstellung des FFH-Gebiets DE3021331 „Aller (mit Barnbruch), untere Leine, untere Oker“ zeigen exemplarisch, aber in besonders auffälliger Weise auf, dass die Umsetzung der Unterschutzstellung der FFH-Gebiete in Niedersachsen erhebliche Defizite aufweist. Auch heute noch ist, trotz der vom niedersächsischen Umweltminister erlassenen Weisung zur Sicherung letzter FFH-Gebiete, das Gebiet nicht vollständig gesichert und weist erhebliche strukturelle Defizite auf. Dabei reduzieren sich die Defizite bei weitem nicht nur auf fehlende Verordnungen für Teilbereiche des Schutzgebiets, sondern betreffen auch die Gebietsabgrenzungen und Verordnungen selbst, da sie z.T. nur Teile der Erhaltungsziele des Gesamtgebiets abdecken.
Es liegt damit auf der Hand, dass die hier beschriebenen Verhältnisse nicht einmal innerhalb des betroffenen Gebietes geeignet sind, um eine einheitliche Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes zu gewährleisten. Es ist davon auszugehen, dass sich diese massiven Defizite auch für andere niedersächsischen Gebiete feststellen lassen. Das wird vor allem die Gebiete betreffen, deren Zuständigkeiten sich über mehrere Landkreise verteilen. Ohne eine gesamthaft abgestimmte Ausweisung werden die Erhaltungsziele nicht zu erreichen sein. Allein diese Heterogenität, die von fehlendem Schutz über einen quasi fehlenden Schutz aufgrund veralteter Verordnungen über einen Teil- bis zum weitgehend beanstandungsfreien Vollschutz reichen, machen deutlich, dass bereits in Niedersachsen ein einheitliches, die Bewahrung bzw. Wiederherstellung sicherndes Schutzniveau für die Natura 2000-Gebiete nicht gegeben ist, sodass die Annahme Deutschlands im Klageverfahren, dass das Ziel der Richtlinie, einen günstigen Erhaltungszustand der relevanten Schutzgüter zu erhalten oder wiederherzustellen, auch durch das deutsche System erreicht werden könne, insbesondere für Niedersachsen derzeit nicht zutreffen kann.
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