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„Deutschland muss in FFH-Schutzgebieten deutlich nachlegen“
Dr. Matthias Schreiber
So titelte die Fachzeitschrift Naturschutz und Landschaftsplanung zu der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) C-116/21 vom 21.09.2023, in der der Landesfachbeauftragte für Naturschutz beim Landesbund für Vogelschutz, Dr. Andreas von Lindeiner, aus dem Urteil dringenden Handlungsbedarf ablas. „Auch Bayern muss jetzt dringend nachlegen.”
Gleich am 21.09.2023 twitterte Jan-Niclas Gesenhues (MdB und umweltpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Grüne): „Zum #EuGH-Urteil gegen Deutschlands bisherige Naturschutzpolitik: Das Urteil bestätigt, dass der Schutz unserer #Natur unter der Vorgängerregierung sträflich vernachlässigt wurde. Diesen schweren Fehler korrigieren wir jetzt.“
In eine ähnliche Richtung gingen verschiedene Pressemitteilungen und Beiträge in den sozialen Medien, so auch beim Nabu Niedersachsen, der eine Mitteilung auf seiner Homepage so überschrieb: „Niedersachsen muss in FFH-Schutzgebieten deutlich nachlegen“.
Was also war geschehen?
Am 21.09.2023 urteilte der EuGH, die Bundesrepublik Deutschland habe dadurch,
- dass sie 88 der 4 606 Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung nicht als besondere Schutzgebiete ausgewiesen hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 4,
- dass sie für 88 der 4.606 in Nr. 1 des Tenors bezeichneten Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung keine detaillierten Erhaltungsziele festgelegt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 4 und
- dass sie für 737 der 4.606 in Nr. 1 des Tenors bezeichneten Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung nicht die nötigen Erhaltungsmaßnahmen festgelegt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1
der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 (FFH-Richtlinie) verstoßen.
Im Übrigen hat der EuGH die Klage abgewiesen.
Was folgt daraus?
Erst einmal gar nichts! Denn die Verurteilung betrifft formale Mängel, die Deutschland mittlerweile abgestellt hat. Die Verurteilung wurde auch nur deshalb ausgesprochen, weil dafür der Stand maßgeblich ist, der zum Zeitpunkt der sogenannten Begründeten Stellungnahme (in diesem Verfahren war das der 13.02.2020) erreicht war. Später eingetretene Veränderungen werden nicht mehr berücksichtigt. Da die Länder aber in der Zwischenzeit die fehlenden Schutzgebietsausweisungen und auch – irgendwelche – Erhaltungsmaßnahmen in Managementplänen festgelegt hatten, war dieser formale Klagegegenstand erledigt.
Eine inhaltliche Prüfung der Verordnungen oder der Managementpläne standen hierbei nicht an.
Bei dem aus Naturschutzsicht viel wichtigeren Punkt vier ist der EuGH der Klage der EU-Kommission dagegen – in diesem Verfahren jedenfalls – nicht gefolgt. Die Kommission hatte darin Deutschland nämlich pauschal über alle Gebiete vorgehalten, die Erhaltungsziele nicht detailliert festgelegt zu haben. Im Kurzdokument zur eingereichten Klage heißt es dazu: „Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie müssten Erhaltungsziele quantifiziert und messbar sein, klar zwischen dem Ziel der „Wiederherstellung“ und dem der „Erhaltung“ der relevanten Schutzgüter des jeweiligen Gebiets unterscheiden und in allgemein verbindlichen Rechtsakten festgelegt sein. Die deutsche Praxis zu den Erhaltungszielen erfülle diese Anforderungen nicht.“
Der EuGH machte zwar deutlich, dass die festgelegten Ziele spezifisch und konkret sein müssen, um als „Erhaltungsziele“ im Sinne der Habitatrichtlinie angesehen zu werden. Dies hätte die Kommission jedoch nicht hinreichend genau dargelegt. In der Randnummer 112 heißt es dazu: „Zugleich kann sich die Kommission in Anbetracht ihrer Pflicht zum Nachweis der behaupteten Vertragsverletzung nicht mittels des Vorwurfs, der betreffende Mitgliedstaat habe generell und anhaltend seine unionsrechtlichen Pflichten verletzt, der Pflicht entledigen, die gerügte Vertragsverletzung anhand konkreter, den Verstoß gegen die von ihr angeführten spezifischen Bestimmungen kennzeichnender Anhaltspunkte nachzuweisen, und sich auf bloße Vermutungen oder schematische Kausalzusammenhänge stützen.“ Der EuGH geht zwar davon aus, dass Erhaltungsziele folglich anhand von Informationen festgelegt werden, die auf einer wissenschaftlichen Prüfung der Situation der Arten und ihrer Lebensräume in einem bestimmten Gebiet beruhen müssten. Die Notwendigkeit, diese Ziele quantitativ und messbar zu formulieren, sei aber in jedem Einzelfall zu prüfen, und in ihr kann keine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten gesehen werden (Randnummern 115, 116). Einen solchen Einzelnachweis hat die EU-Kommission im Klageverfahren allerdings nicht erbracht.
Der EuGH erkennt zwar an, dass die Kommission einige konkrete Beispiele angeführt hat, die den Verstoß illustrieren sollen. Sie hat diese Beispiele aber auf alle 4.606 Gebiete bezogen und gefolgert, dass die Mängel in allen Fällen bestehen. Das wollte der EuGH nicht gelten lassen. Für die Beispielgebiete aber hat die Kommission in ihrer Klageschrift die Feststellung durch den EuGH, gegen ihre Verpflichtungen verstoßen zu haben, nicht ausdrücklich beantragt. So ist die EU-Kommission mit diesem zentralen Punkt ihrer Klage vorerst leer ausgegangen.
Ist nun alles in Ordnung?
Davon kann für hiesige FFH-Gebiete beim besten Willen nicht die Rede sein. Denn Deutschland ist an entscheidender Stelle allein aus formalen Gründen nicht verurteilt worden. Fest steht jedoch, dass ohne eine Konkretisierung der Erhaltungsziele und klare Vorgaben über eine zeitliche und räumliche Festlegung von deren Umsetzung, wie von der EU-Kommission gefordert, das Schutzgebietsnetz Natura 2000 nicht erfolgreich und nachprüfbar umgesetzt werden kann. Die unverbindlichen Wischiwaschi-Formulierungen, die sich als immer wiederkehrende Textbausteine in den Verordnungen wiederfinden, lassen weder eine richtlinienkonforme Prüfung von Plänen und Projekten noch eine Gebietsentwicklung zu. Genau daran muss die EU-Kommission aber ein Interesse haben, will sie in der Lage sein, ggf. nachzusteuern, um die Richtlinienziele zu erreichen.
Da die Praxis der vergangenen Jahrzehnte gezeigt hat, dass Deutschland sich bei einer echten Konkretisierung von Schutzzielen in Natura 2000-Gebieten „schwer tut“ und diese Entscheidung des EuGH nicht doch von sich aus aktiv wird, führt kein Weg an einem neuen Vertragsverletzungsverfahren vorbei. Für einen erfolgreichen Neuanlauf lässt sich aus dieser (und weiteren) EuGH-Entscheidungen aber eine Art Segelanleitung ableiten.
Die Klageschrift müsste die immer wiederkehrenden unscharfen Formulierungen in den deutschen Verordnungen und Managementplänen sowie deren Unverbindlichkeit herauszuarbeiten. Wie vom EuGH gefordert, wäre dann für ausgewählte Gebiete beispielhaft und im Detail darzulegen, weshalb damit die gebietsspezifischen Ziele nicht verlässlich zu beurteilen und umzusetzen sind. Es wäre dabei mühelos möglich, eine gleichmäßige bundesweite Streuung der Beispielfälle zu erreichen, sodass kein Land auf den Gedanken kommen könnte, es sei nicht betroffen. Für die von der Generalanwältin in ihren Schlussanträgen angesprochenen Sondersituationen (Randnummer 49) besonders dynamischer oder komplexer Gebiete wären die Anforderungen sachbezogen zu modifizieren. Kommt es so zu einer Verurteilung, lässt sich das Ergebnis anschließend auf eine Vielzahl weiterer Gebiete und Erhaltungsziele übertragen.
Umgekehrt könnte Deutschland das Urteil aber auch als Weckruf verstehen und z.B. durch das Bundesamt für Naturschutz Bausteine für den Ansprüchen des EuGH genügende Unterschutzstellungen der FFH-Gebiete nach obigem Muster zu liefern. Es hätte eine besondere Note, wenn eine wieder zunehmende Anzahl nicht-grüner Umweltminister am Ende Aufräumarbeiten nicht erledigter Umsetzungsaufgaben bei der Realisierung des europäischen Biodiversitätsschutzes übernehmen würden – freiwillig oder weil sie es müssen.
Drohen nun Strafzahlungen?
Was ist von dem Hinweis in der Pressemitteilung des Nabu Niedersachsen zu halten, ohne eine Nachbesserung würden Strafzahlungen drohen? Auch daran ist wenig bis nichts. Denn Deutschland müsste wegen der festgestellten Verstöße erst ein zweites Mal durch den EuGH verurteilt werden. Dafür bleibt jedoch praktisch keine Substanz, denn die formalen Defizite sind so gut wie vollständig abgearbeitet. Soweit bekannt, bleibt dafür einzig das FFH-Gebiet „Düte (mit Nebenbächen)“ (DE3613332) in Stadt und Landkreis Osnabrück übrig. Hier ist die erforderliche Neuabgrenzung durch das Land noch nicht abgeschlossen und hinsichtlich der Schutzgebietsausweisung besteht noch Uneinigkeit zwischen den beiden Gebietskörperschaften. Ob also ein neues Verfahren wegen dieses einen von 4.606 Gebieten eingeleitet wird, darf bezweifelt werden. Wenn dem Nabu das Thema am Herzen liegt, wird er also selbst Initiative ergreifen müssen und kann nicht darauf warten, dass irgendetwas in Brüssel passiert.
Ebenso wenig ist auch an der Einlassung von J.-N. Gesenhues dran, der eine Verantwortung der vorherigen Bundesregierung sieht und dies nun korrigieren will. Er hat dabei nämlich übersehen, dass die Umsetzung der FFH-Richtlinie Länderangelegenheit ist und dort in den zurückliegenden Jahren weit überwiegend grüne Politiker oder Politikerinnen die zuständigen Ministerien geleitet haben. Der Vorwurf der Untätigkeit fällt also auf seine Partei zurück. Nimmt man das Motto des aktuellen Parteitages „Machen, was zählt“, dann zeigt die aktive grüne Politik der vergangenen Jahre, was dort nicht gezählt hat – die Umsetzung des Schutzgebietsnetzes Natura 2000 und die Bewahrung der Biodiversität.
Weitere Links zu dem Thema:
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Umweltforum auf dem Weg zum Europäischen Gerichtshof!
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