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Zur unionsrechtswidrigen Umsetzungspraxis des Niedersächsischen Walderlasses

Lisa Hörtzsch

Das Niedersächsische Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat gemeinsam mit dem Niedersächsischen Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz am 21.10.2015 einen Runderlass beschlossen, welcher Maßgaben für die Ausweisung von Naturschutz- und Landschaftsschutzgebieten auf Grundlage der FFH- und Vogelschutzrichtlinie vorsah und somit die Unterschutzstellung von zahlreichen Waldflächen in Niedersachsen regelte. Dabei wurde festgelegt, dass die ordnungsgemäße Forstwirtschaft i.S.d. § 11 NWaldLG zunächst pauschal von den allgemeinen Verboten einer Schutzgebietsverordnung auszunehmen ist und in einem weiteren Schritt Beschränkungen anhand der in der Anlage näher bezeichneten Maßgaben zu treffen sind. Der daraus resultierende Umfang an zugelassenen Freistellungen ist jedoch derart weitgehend, dass bei einzelnen Maßnahmen nicht generell davon ausgegangen werden kann, dass es zu keiner erheblichen Beeinträchtigung des konkreten Schutzgebiets kommt und diese daher FFH-verträglich sind. Der Niedersächsische Walderlass ist am 31.12.2020 außer Kraft getreten und wurde bereits in einer Vielzahl von Schutzgebietsverordnungen umgesetzt, obwohl einzelne Bestimmungen vor dem Erlass auf ihre FFH-Verträglichkeit im konkreten Schutzgebiet hätten untersucht werden müssen. Eine generelle Freistellung der ordnungsgemäßen Forstwirtschaft nach den dortigen Kriterien kann im Einzelfall einen Verstoß gegen die FFH- und Vogelschutzrichtlinie darstellen. Bei der Anwendung der jeweiligen Schutzgebietsverordnungen kann es daher erforderlich sein, freigestellte Vorhaben (dennoch) auf ihre FFH-Verträglichkeit zu überprüfen.

I. Inhalt des Niedersächsischen Walderlasses

In der Anlage Teil B „Beschränkungen der ordnungsgemäßen Forstwirtschaft“ wurden zunächst Maßnahmen für die Regulierung und Nutzung von Waldbeständen mit dem Lebensraumtyp (LRT) des Anhang I und der Habitate des Anhang II der FFH-RL genannt, die von der Freistellung erfasst waren. Diese sollten somit per se in einem Schutzgebiet zugelassen werden. Die Freistellung unter B II Nr. 1 a) sah beispielsweise vor, dass auf Waldflächen mit wertbestimmenden Lebensraumtypen des Erhaltungszustands „B“ oder „C“ ein Altholzbestand bis auf 20% der Ausgangsgröße (bezogen auf die Waldfläche des/r jeweiligen Eigentümer*in) eingeschlagen werden darf. Folglich wird zum einen die Zerstörung von bis zu 80% der bestandstypischen und den LRT prägenden Baumarten zugelassen. Zum anderen kann diese Fläche auch für charakteristische Tierarten, die auf große geschlossene Waldbestände angewiesen sind, als Lebensraumtyp zumindest unattraktiv, wenn nicht gänzlich unbrauchbar werden. Eine Verschlechterung des Erhaltungszustands bis hin zur de facto Beseitigung ist angesichts des Umfangs der zugelassenen Maßnahme somit wahrscheinlich, eine erhebliche Beeinträchtigung kann jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Gerade diese Bestimmung findet sich in einer Vielzahl von Schutzgebietsverordnungen wieder (es liegen Beispiele aus 26 Landkreisen vor, namentlich z.B. VO über das Landschaftsschutzgebiet „Natura 2000-Emsauen von Salzbergen bis Papenburg“, § 3 Abs. 1 Nr. 35 a); VO über das Landschaftsschutzgebiet „Steller Heide“ in der Gemeinde Stuhr, § 4 Abs. 4 II. Nr. 12 a); VO über das Naturschutzgebiet „Bobenwald“ in der Gemeinde Klosterflecken Ebstof, § 4 Abs. 3 Nr. 1 f) ). Gleiches gilt für die unter B III 1 a) – e) formulierten Freigaben für Holzeinschläge auf Waldflächen mit dem Erhaltungszustand „A“. Davon betroffen sind insbesondere die im Gebiet vorkommenden Waldlebensraumtypen 9110, 9120, 9130, 9150, 9160, 9170, 9190, 91F0, 91T0, 9410 und sogar die prioritären Waldlebensraumtypen 9180*, 91D0* und 91E0*.

Die in Nr. 1.9 enthaltene Öffnungsklausel sah zwar vor, dass ergänzende Beschränkungen der ordnungsgemäßen Forstwirtschaft bei räumlicher und inhaltlicher Erforderlichkeit festgelegt werden konnten, allerdings wurde dies in dem Begleitschreiben zum Leitfaden für die Praxis vom 19.02.2018 wiederum auf „begründete Ausnahmefälle zum Schutz einzelner Arten oder Lebensraumtypen“ beschränkt. In dem genannten Schreiben wird außerdem ausgeführt, dass es aus Sicht der Landesregierung nicht zielführend sei, wenn von einzelnen verordnungsgebenden Behörden […] über das Ziel hinausgegangen werde [Anm.: indem höhere Schutzstandards festgelegten werden]. Bereits aus den beispielhaft genannten Regelungen wird jedoch deutlich, dass eine formelhafte Übernahme ohne entsprechende FFH-Verträglichkeitsprüfung eine Verletzung des Unionsrechts begründen kann und daher weitergehende Beschränkungen den Regel- und nicht den Ausnahmefall hätten darstellen müssen.

II. Verstoß gegen Unionsrecht / FFH-Richtlinie

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind aufgrund der Richtlinie 92/43 EWG des Rates vom 21.05.1992 (FFH-Richtlinie) zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen und aufgrund der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.11.2009 (Vogelschutzrichtlinie) zur Erhaltung wild lebender Vogelarten verpflichtet. Die Umsetzung erfolgt mittels einer Ausweisung von FFH- und Vogelschutzgebieten in Form von Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebieten durch Verordnungen der unteren Naturschutzbehörden (vgl. § 32 BNatSchG i.V.m. § 23 und 26 BNatSchG; § 16 Abs. 1 und 19 NAGBNatSchG), wobei die Art und Weise der Ausweisung im Ermessen der zuständigen Behörde steht. Der Niedersächsische Walderlass schränkte die Ermessensausübung ein, da dieser eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift darstellte und somit grundsätzlich verwaltungsinterne Bindungswirkung entfaltet hat. (Im dazugehörigen Leitfaden „Natura 2000 in niedersächsischen Wäldern“ vom 19.07.2019 wird ausdrücklich klargestellt, dass die untere Naturschutzbehörde im Bereich des Naturschutzes im übertragenen Wirkungskreis tätig wird und insoweit an den Niedersächsischen Walderlass gebunden ist.)

Die Vorgaben im Niedersächsischen Walderlass bezwecken letztlich eine Konkretisierung des § 11 NWaldLG, der die Kennzeichen einer ordnungsgemäßen Forstwirtschaft regelt. Hintergrund dessen ist, dass eine Maßnahme, die den Regeln der guten fachlichen Praxis der forstwirtschaftlichen Nutzung entspricht, nach Maßgabe der Gesetzesbegründung kein Projekt i.S.d. § 34 Abs. 1 S. 1 BNatSchG darstellt (vgl. BR-Drs. 278/09 S. 203 f.) und somit nicht der FFH-Verträglichkeitsprüfungspflicht unterliegen soll. Im Ergebnis kann es jedoch dahin stehen, ob die in der Anlage genannten Nutzungen nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen und bewährten Regeln der Praxis als ordnungsgemäß angesehen werden können, da es immer auf die Auswirkungen im jeweiligen Einzelfall ankommt. So stellte der EUGH (vgl. Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-98/03, Rn. 41) fest, dass bestimmte Kategorien von Projekten nicht generell im Wege der guten fachlichen Praxis ausgenommen werden können, wenn die Möglichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung nicht ausgeschlossen ist. Auch das BVerwG (vgl. Urt. v. 06.11.2012, Az. 9 A 17.11, juris Rn. 89) führte einschränkend aus, dass der o.g. Regelfall nicht angenommen werden könne, wenn Besonderheiten der (dort landwirtschaftlichen) Nutzung im konkreten Fall mit den naturschutzfachlichen Gegebenheiten nicht zu vereinbaren seien. Ob eine erhebliche Beeinträchtigung des Gebiets in seinem für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen drohe, sei zuvörderst eine naturschutzfachliche Frage, die der für die Unterschutzstellung zuständige Normgeber durch die Schutzgebietsausweisung und -pflege zu regeln habe. Daraus folgt, dass vor Erlass einer Schutzgebietsverordnung hätte überprüft werden müssen, ob die pauschalen Maßgaben des Niedersächsischen Walderlasses in dem konkreten Schutzgebiet tatsächlich nicht geeignet sind, um erhebliche Beeinträchtigungen zu verursachen. Wie bereits ausgeführt ist die Ausweisung in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bereits abgeschlossen, sodass jedenfalls bei der Anwendung der Schutzgebietsverordnungen die zuständige Behörde (trotz Freistellung) zu überprüfen hat, ob erhebliche Beeinträchtigungen eines Natura 2000-Gebietes ernstlich zu besorgen sind (FFH-Vorprüfung) und im Anschluss ggf. eine FFH-Verträglichkeitsprüfung folgen muss.

Andernfalls würde der Niedersächsische Walderlass dazu führen, dass es in den jeweiligen Geltungsbereichen der Schutzgebietsverordnungen zu keiner Überprüfung von potenziell FFH-pflichtigen forstwirtschaftlichen Maßnahmen kommt. Eine Überprüfung erfolgte weder bei Erlass des Niedersächsischen Walderlasses, noch bei Ausweisung der Schutzgebiete und soll auch nicht für die dort freigestellten Einzelmaßnahmen durchgeführt werden. Dies stellt ersichtlich ein unionsrechtswidriges Vorgehen dar, da die Vorgaben der FFH-Richtlinie letztlich leerlaufen würden. Daher sind die Behörden im Wege des unionsrechtlichen Grundsatzes effet utile und dem daraus folgenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu einer unionsrechtskonformen Auslegung dergestalt verpflichtet sind, auch für freigestellte Vorhaben bei Vorliegen der Voraussetzungen eine FFH-Verträglichkeitsprüfung durchzuführen. Denn im Kollisionsfall wird jede dem Unionsrecht (hier der FFH-Richtlinie) entgegenstehende nationale Bestimmung (hier die ggf. zu weitgehenden Freistellungen) unanwendbar (vgl. Calliess/Ruffert/Ruffert, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 1 Rn. 21f.).

Weitere Beispiele siehe hier zum Gehn und zum Wiehengebirge.

Für Rückfragen: Lisa Hörtzsch

(Bilder: M. Schreiber)

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