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Bisherige bundesdeutsche Ausweisungspraxis bei EU-Vogelschutzgebieten ist unzureichend!
Dr. Matthias Schreiber
Die EU-Vogelschutzrichtlinie (VRL), 1979 verabschiedet, sieht in Artikel 4 Abs. 1 die Ausweisung von Schutzgebieten vor:
„Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen.
…
Die Mitgliedstaaten erklären insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geografischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind.“
Zu den Vogelarten des Anh. I VRL gehören Arten wie die heimischen Adler, Uhu, Weiß- und Schwarzstorch, Blaukehlchen und eine ganze Reihe weiterer, meist sehr seltener Arten.
Darüber hinaus gilt aber auch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie, der folgendes besagt:
„Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse in dem geografischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten.“
Damit ist das breite Artenspektrum der Zugvögel angesprochen, zu denen z.B. die Feldlerche, die heimischen Grasmücken, Braun- und Schwarzkehlchen, Fitis, Zilpzalp oder die Singdrossel zu rechnen sind.
In der bundesdeutschen Praxis der Gebietsausweisung war es allerdings durchgängig üblich, sich auf die Arten des Anh. I VRL und gefährdete Zugvogelarten zu beschränken. in keinem Fall aber wurde das gesamte in einem Gebiet vorkommende Vogelartenspektrum zum Gegenstand des Schutzes gemacht.
Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 12.09.2024 (Az. C-66/23) tut sich hier nun erheblichen Nachbesserungsbedarf auf.
Der EuGH hatte sich mit Vorlagefrage eines griechischen Gerichts zur Auslegung der EU-Vogelschutzrichtlinie auseinanderzusetzen. Die zentrale Frage des griechischen Gerichts fasst der EuGH so zusammen: „Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 bis 4 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung und zur Wiederherstellung von wildlebenden Vogelarten und Lebensräumen in besonderen Schutzgebieten (im Folgenden „BSG“) nur für diejenigen Arten gelten, die die Ausweisung des betreffenden Gebiets als BSG rechtfertigen, oder auch für andere nach Artikel 4 der Habitatrichtlinie zu schützende Vogelarten, die in diesen BSG vorkommen.“, (Urteilstext auf der Homepage des EuGH nicht in Deutsch verfügbar; deutsche Passagen hier mit Google Übersetzer aus dem Englischen).
Nach einer Ableitung kommt der EuGH zu folgendem Ergebnis:
„Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie und Art. 6 Abs. 2 bis 4 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, für jedes BSG individuelle Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen für alle geschützten Arten und ihren Lebensraum festzulegen. Allerdings obliegt es den Mitgliedstaaten, Prioritäten entsprechend der Bedeutung dieser Maßnahmen für die Erreichung der Erhaltungsziele in Bezug auf alle diese Arten festzulegen.“
Der EuGH folgt damit der (ausführlicheren) Herleitung durch die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen vom 22.02.2024.
Ein Urteil mit weitreichenden Konsequenzen!
Das Urteil des EuGH dürfte für die deutsche Meldung von EU-Vogelschutzgebieten und der Ausgestaltung der Schutz- und Erhaltungsziele weitreichende Folgen haben. So ist absehbar, dass das laufende Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland hinsichtlich des Vorwurfs, für verschiedene wandernde Vogelarten wie z.B. Kuckuck oder Bluthänfling nicht genügend Schutzgebiete ausgewiesen zu haben (beim Bluthänfling z.B. gar keins), Erfolg haben dürfte.
Das neue EuGH-Urteil bedeutet für die bereits ausgewiesenen Gebiete, dass in erheblichem Umfang weitere Arten als Erhaltungsziele nachzubenennen sind. Es wird den Anforderungen dieses Urteils nämlich in keiner Weise gerecht, wenn z.B. in einem Gebiet wie das Untere Mittelrheingebiet in Rheinland-Pfalz mit einer Gesamtfläche von über 2.000 ha lediglich fünf Vogelarten mit einem Gesamtbestand von 32 Brutpaaren geschützt werden sollen, der Bestand aller Arten, die nach der Richtlinie zu schützen sind, aber vermutlich im fünfstelligen Bereich liegt. Erst recht ist fehlerhaft, dass nach bisherigem rheinland-pfälzischem Verständnis sogar nur der Uhu als sogenanntes Hauptvorkommen relevant sein soll. Solche Beispiele gibt es aus praktisch allen Bundesländern, hier noch eines aus Niedersachsen: Für das fast 850 ha große EU-Vogelschutzgebiet „Schweimker Moor und Lüderbruch“ sehen die bisherigen Regelungen lediglich den Schutz der sieben Vogelarten Krickente, Stockente, Ortolan, Kranich, Schafstelze, Großer Brachvogel und Braunkehlchen vor, die dort nach dem offiziellen Meldedokument mit 18 Revieren vertreten sind. Führt man sich allerdings die reichhaltige Lebensraumstruktur (siehe Bilder zum Gebiet) vor Augen, darf man auch hier von mehreren tausend Brutpaaren einer Vielzahl von Vogelarten ausgehen.
Da für JEDES Vogelschutzgebiet individuelle Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen für ALLE geschützten Arten und ihre Lebensräume festzulegen sind, ergibt sich also erheblicher Nachbesserungsbedarf:
- Zuerst einmal ist das gesamte in den Vogelschutzgebieten vorkommende Artenspektrum zu ermitteln. Die Arten sind dann als Erhaltungsziele in den sogenannten Standarddatenbögen nachzumelden.
- Es ist aber nicht mit der Nachmeldung der Vogelarten und ihrer Bestände getan. Vielmehr müssen sie auch in die Schutzgebietsverordnungen für die einzelnen Vogelschutzgebiete aufgenommen werden.
- Managementpläne zur Entwicklung der Vogelschutzgebiete müssen auf die neu hinzugekommenen Vogelarten erweitert und dahingehend analysiert werden, ob sich womöglich konkurrierende Erhaltungsziele ergeben und wie diese zu entzerren sind.
- Für laufende Planungsverfahren, die innerhalb oder in Wirkweite von EU-Vogelschutzgebieten liegen, sind Verträglichkeitsprüfungen auf eine ganz neue Grundlage zu stellen. Es reicht nicht mehr, die Prüfungen auf das bisher in Standarddatenbögen und Verordnungen berücksichtigte Artenspektrum zu beschränken.
Es lässt sich zusammenfassen: Wenn das Urteil ernst genommen wird, stehen umfangreiche Erweiterungen bei der Ausgestaltung und Sicherung der Vogelschutzgebiete ins Haus. Dieser Umbruch könnte dazu genutzt werden, den Vogelschutz auf ganz neue, solide Füße zu stellen. Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte lehrt allerdings, dass derartige Anpassungen allenfalls dann funktionieren werden, wenn von Seiten der vogelkundlichen Vereinigungen und der Naturschutzverbände massiv darauf gedrängt wird.
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