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Ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland

Uferschnepfe, vom Aussterben bedroht und bei Balzflügen kollisionsgefährdet. (Foto: M. Schreiber)

Matthias Schreiber

1979 wurde die Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (kurz Vogelschutzrichtlinie, hier im weiteren VRL) verabschiedet. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten der EU unter anderem dazu, für Vogelarten, die im Anhang I der Richtlinie gelistet sind, Schutzgebiete in einem Umfang auszuweisen, „um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen.“ Im Anhang I sind Vogelarten wie Blaukehlchen, Rotmilan, Seeschwalben, Weiß- und Schwarzstorch, Uhu, Goldregenpfeifer oder Rohr-, Wiesen- und Kornweihe aufgeführt. Eine gleichlautende Verpflichtung besteht aber auch für „die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser– und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten“.

Eine Auswertung der EU-Kommission hat nun ergeben, dass Deutschland gegen mehrere der Verpflichtungen aus der Vogelschutzrichtlinie verstoßen hat. Wegen dieser Verstöße wurde nun mit der Übersendung des Mahnschreibens am 13.03.2024 ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet:

  1. Deutschland hat einen Teil der Gebiete, die sie als Vogelschutzgebiete benannt hat, nicht nach nationalem Recht geschützt. Niedersachsen ist hier mal wieder ganz vorn dabei.
  2. Für ausgewählte Vogelarten hat die Analyse verschiedener offizieller Quellen ergeben, dass die Bestände in den Schutzgebieten z.T. drastisch abgenommen haben. Im Einzelnen wird dies für ca. 140 Gebiete dargelegt, in denen die Arten Grauspecht, Uferschnepfe und Goldregenpfeifer vorkommen oder vorkamen. Für den Goldregenpfeifer hält die EU-Kommission Deutschland vor, dass man die Art sogar hat aussterben lassen. Gleichzeitig wird jedoch auch betont, dass die drei Arten beispielhaft für eine Reihe weiterer Arten stünden (genannt werden überdies Kiebitz, Braunkehlchen, Bekassine, Turteltaube oder Feldlerche).
  3. Deutschland hat für eine Reihe von Zugvogelarten so gut wie keine oder gar keine Schutzgebiete ausgewiesen. Auch hier trägt die EU-Kommission Beispielarten vor und bezieht sich auf Baumpieper, Bluthänfling, Feldlerche, Feldschwirl und Kuckuck. Mit Karten und Tabellen, die den Anteil der in den einzelnen Bundesländern geschützten Anteile der Gesamtpopulation dokumentieren, unterfüttert man den Vorwurf. Auch hier betont die EU-Kommission, dass es sich bei den aufgeführten Arten um eine beispielhafte Auswahl handelt (siehe z.B. die Situation bei der Turteltaube und der Feldlerche).

Ausdrücklich thematisiert wird schließlich das nordrhein-westfälische Vogelschutzgebiet „Unterer Niederrhein“, das bereits früher Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens war, welches seinerzeit aber eingestellt wurde, weil vom Land Verbesserungsmaßnahmen in Aussicht gestellt wurden. Die sind aber nicht zur Zufriedenheit der EU-Kommission umgesetzt worden.

Die deutschen Hausaufgaben

Die Beweisführung der EU-Kommission im Mahnschreiben stützt sich vollständig auf offizielle Daten, sodass davon auszugehen ist, dass Deutschland an der Abarbeitung der offenkundigen Defizite nicht vorbeikommen wird: früher, indem man auf die EU-Kommission zugeht und einen konkreten und glaubwürdigen Arbeitsplan noch vor einer Fortsetzung des Verfahrens vorlegt, oder später, wenn es zu einer – peinlichen – Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof gekommen ist und drohende Strafzahlungen einen hohen Handlungsdruck erzeugen.

Die Behebung der Defizite sind mit unterschiedlichem Aufwand verbunden, wobei sich ausgerechnet die Vorhaltungen der EU-Kommission, wonach für gefährdete Zugvogelarten gar keine oder viel zu wenige Gebiete ausgewiesen wurden, wohl recht einfach aus der Welt schaffen lassen. Denn deren Vorkommen könnte man in bestehenden Schutzgebieten als Schutzziel ganz einfach ergänzen. Das erfordert lediglich eine Änderung des Meldedokuments an die EU-Kommission und eine Anpassung der Erhaltungsziele in den Schutzgebietsverordnungen und Managementplänen (siehe z.B. zur Turteltaube in Niedersachsen).

Die von der EU-Kommission bemängelte, fehlende Unterschutzstellung würde die Ausweisung der benannten Gebiete als Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebiet erfordern, wie es das Bundesnaturschutzgesetz auch als Regelfall vorsieht. Auch dieser Schritt ist vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen, wobei allerdings die Formulierung der Erhaltungsziele und Ge- und Verbote eine andere Qualität erhalten müssten, als dies in den meisten bisherigen Schutzgebieten der Fall ist.

Anspruchsvoller wird es hingegen, dem von der EU-Kommission dokumentierten, z.T. drastischen Bestandsrückgang der beispielhaft genannten Vogelarten zu begegnen. Hierfür sind in jedem von der EU-Kommission namentlich benannten Gebiet angepasste Maßnahmen erforderlich. Dass das aber kein Hexenwerk ist, zeigen Positivbeispiele. So hat der im Bestand stark zurückgegangenen und vom Aussterben bedrohten Uferschnepfe aufgrund umfangreicher Maßnahmen im Vogelschutzgebiet „Dümmer“ (Niedersachsen) im Lauf der Jahre deutlich zugenommen und einen stabilen Bestand erreicht. Entsprechende Schritte müssten also in anderen Gebieten ebenfalls umgesetzt werden.

Selbst für den mittlerweile ausgestorbenen Goldregenpfeifer ist nicht alles verloren. Denn nach Beobachtungen örtlicher Ornithologen bleiben immer wieder Exemplare der nach Skandinavien durchziehenden Art in den traditionellen Mooren im westlichen Niedersachsen „hängen“. Würden sie artgerechte Flächen vorfinden, wäre eine Wiederansiedlung nicht ausgeschlossen. Konkrete Vorschläge zur Gestaltung dieser derzeit großflächig noch in Abtorfung befindlichen Flächen liegen den Landesfachbehörden vor, lagern dort aber im „Giftschrank“ für unbequeme Maßnahmen. Das zuständige Ministerium haben solche Vorschläge womöglich nie erreicht. Für die Stützung der Grauspechtgebiete wird man eine konsequente Steuerung der Forstwirtschaft in den Vogelschutzgebieten festlegen müssen, wie von die EU-Kommission angemahnt: „Beispiel Stromberg: „In der Verordnung ist jedoch keine konkrete Regulierung mit Ge- und Verboten in Bezug auf die Forstwirtschaft für das Vogelschutzgebiet enthalten, obwohl Aktivitäten in diesem Bereich eine der Hauptbelastungsfaktoren für den Grauspecht sind.“

Es ist bedauerlich, dass es die großen Naturschutzverbänden auch nach vier Monaten noch nicht vermocht haben, die Tragweite dieses Vertragsverletzungsverfahrens deutlich zu machen und beispielsweise zusammen mit den aktiven Nabu- und BUND-Gruppen zu den konkret betroffenen ca. 140 EU-Vogelschutzgebieten vor Ort Initiativen zu starten, in denen die EU-Kommission Bestandsrückgänge bei ausgewählten Vogelarten bemängelt hat. Denn die Umsetzung der Maßnahmen muss vor Ort erfolgen. Die Naturschutzverbände müssen hier die zentralen Impulsgeber sein.

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